Ottakring im Wandel: In Wien entsteht nach Berliner Vorbild ein schickes Viertel, wo bislang Ausländer dominierten

Von Herbert Hacker und Gerd Millmann

Quelle: DIE ZEIT Nr. 44 vom 22. Oktober 2009

Samstagabend in Ottakring, dort, wo sich die Wiener Vorstadt lange ihren herben Charme erhalten konnte. Ibrahim Kilicdagi ist zufrieden. Sein Lokal ist krachend voll. Unaufhörlich drängt schickes Publikum zur Tür herein. Wer einen Platz ergattern kann, bekommt automatisch ein Glas Prosecco serviert, damit die Zeit nicht lang wird, bis die gegrillte Seezunge kommt. Man trägt modisch saloppe Designerkluft, bei Männern ist ein Dreitagebart obligatorisch. Es sind Leute, die so gar nicht in den traditionellen Arbeiterbezirk passen wollen, sondern eher die teuren Schuppen in der Innenstadt bevölkern: die Plapperazzi von Wien.

Das Fischrestaurant An-Do am Yppenplatz ist noch keine zwei Wochen alt und liegt schon ganz im Trend der Flaneure, die immer Ausschau halten nach einem neuen Ort, an dem man unbedingt angetroffen werden sollte, will man dazugehören. Das kühle Ambiente des mediterranen Hedonistentreffs auf dem Marktplatz inmitten der Zinskasernen aus der Gründerzeit verrät, dass sich ein Stadtteil gerade in einem rasanten Wandel befindet. Gentrifikation nennen kritische Stadtplaner diesen Prozess. Das Brunnenviertel, gerade 0,2 Quadratkilometer Vorstadt rund um den längsten Straßenmarkt Europas, rund 7000 Bewohner, 41 Prozent Ausländeranteil, ist zum neuen Biotop der Schönen und Kreativen der Stadt geworden.

Sie haben in dem einst schäbigen Revier einen Ort entdeckt, dem sie ihren Stempel aufdrücken können. Eine kleine innerstädtische Völkerwanderung ist in Gang gekommen, wie das auch in anderen europäischen Metropolen der Fall ist. Das beste Beispiel dafür ist wahrscheinlich Berlin. Dort okkupierten Scharen von urbanen Erfolgsmenschen das verkommene Wohngebiet der unangepassten Ost-Boheme, den Prenzlauer Berg, und verwandelten die Tristesse in eine Idylle für eklektische Besserverdiener. Heute reihen sich dort Bioläden an Yoga-Kindergärten und Straßencafés, in denen der Caffè-Latte-Schäumer nie zur Ruhe kommt. »Republik Bionade«, spotten die Berliner, wenn sie von der exterritorialen Zone reden, deren Staatsform eine Kultlimonade repräsentiert.

Ähnliches bahnt sich nun um den Wiener Yppenplatz an. Laufend eröffnen Delikatessenlokale, Shops für Krimskrams, Galerien, Modeateliers, Kreativstudios, Orte, an denen moderne Lebenskünstler entspannen. Das Brunnenviertel ist eine begehrte Wohngegend geworden – für jüngere, gut verdienende Kosmopoliten, Architekten, Rechtsanwälte, Schriftsteller oder Künstler. Prominenter Zuzug, etwa die Schauspielerin Nina Blum oder der Erfolgsautor Daniel Glattauer, haben die Gegend ins Gespräch gebracht. »Wir haben eine lange Warteschlange«, verrät Immobilienmakler Erich Krammer.

»Ich frage mich, welcher Zuwanderer sich das leisten soll. In meinem Haus gibt es nur gut verdienende Paläoösterreicher«, sagt Michael Korbel, ein Kreativer aus der Werbebranche, der sich unlängst hier angesiedelt hat. Für seine 100 Quadratmeter große Wohnung zahlt er monatlich stolze 1300 Euro. Er schätzt das Marktgewusel, die Geräuschkulisse, den Duft der Kulturen: »Da erspare ich mir einen Urlaub.« Auf Schritt und Tritt begegne er aber seinesgleichen. An Integration in seiner Nachbarschaft glaubt er nicht. »Hier gibt es noch horizontale und vertikale Vielfalt«, meint hingegen eine andere Anwohnerin, die Managerin Anja Lesak.

Die einen hoffen auf ein Vorzeigeviertel, andere fürchten eine Luxusmeile

Brunnen- und Yppenmarkt, das sind 550 Betriebe, die meisten davon in türkischer Hand. Aus der Luft betrachtet, ist das ein langer Schlauch mit einem großen Platz am Ende. 59.000 Menschen schlendern jede Woche durch die Brunnengasse. Das sind mehr Besucher als auf allen anderen Märkten der Stadt. Selbst am zentral gelegenen Naschmarkt tummeln sich weniger Leute als hier in Ottakring.

Vor allem der Yppenplatz ist zum Brückenkopf einer Invasion der Bobos geworden, jener bourgeoisen Bohemiens, die ihren Konsumismus mit einer Spur sozialem Gewissen legitimieren. Lokalen wie dem La Salvia, einem Imbiss mit friaulischen Spezereien, verdankt der Platz sein runderneuertes Flair. Es gibt Jazzkonzerte, Lesungen und Weinverkostungen. Im Herbst wird weißer Trüffel auf die Teller gehobelt. Edles Essen für edle Menschen. Ibrahim Kilicdagi hat diese Entwicklung rechtzeitig erkannt. Der gebürtige Türke besitzt ein kleines Gastroimperium und sicherte sich am Yppenmarkt schon vor Jahren einen Platz: »Damals waren die Preise noch niedrig. Jetzt sind sie deutlich gestiegen. Doch im Vergleich zum Naschmarkt ist hier alles noch günstig.«

Der Marmelademacher Hans Staud war am Yppenplatz bereits ansässig, als das Viertel noch wenig begehrt war. Die Geschichte seiner Konfitürenmanufaktur reicht zurück bis in die Monarchie. Auch er beobachtet, wie sich »die Atmosphäre in dieser Gegend deutlich gewandelt hat«.

Auf den ersten Blick findet sich hier noch immer eine bunte, heile Welt mit türkischer Basarstimmung. Und genau das suchen die neuen Bewohner dieses Viertels. Es ist ein Sehnsuchtsort, an dem das harmonische Miteinander verschiedener Welten zu funktionieren scheint. Irene Strobl, die Pionierin vom La Salvia, misstraut hingegen der multikulturellen Idylle: »Die Türken bleiben zumeist unter sich, und die Österreicher gehen nur in ganz bestimmte Lokale, wo sie wiederum nur auf Inländer treffen.«

Ähnlich wie dem Berliner »Prenzlberg« (so nennt der Stadtjargon das Viertel) droht auch dem Brunnenviertel eine Zweiklassengesellschaft, die langsam auseinanderdriftet. Reiche Inländer einerseits, die sich ihren multikulturellen Eskapismus teuer erkaufen, und Ausländer anderseits, die sich in ihr Ghetto zurückziehen, bevor sie ganz verdrängt werden.

Ein begehrtes Terrain für Spekulanten ist das Viertel schon jetzt. Im Wollnerhof etwa, einem sanierten Wohnhaus im Stil des Fin de Siécle, versuchte ein Immobilienhai viele Jahre lang, alteingesessene Mieter hinauszuekeln. Einige leisteten jedoch hartnäckigen Widerstand. »Eine alte Dame hat die Tauben im Hof mit dem Luftdruckgewehr erledigt«, erzählt Josef Cser von der städtischen Einsatzgruppe gegen Immobilienspekulation, die den Spuk schließlich beendete. Heute beherbergt der Wollnerhof geförderte Wohnungen.

»Eine Luxusmeile wird das Viertel sicher nicht«, versichert die türkischstämmige Stadträtin Nurten Yilmaz von der SPÖ. Nach dem Willen der Stadtverwaltung soll hier vielmehr ein Vorzeigeviertel für friedliches Zusammenleben entstehen. Die Gemeinde hat in den vergangenen vier Jahren fast 50 Millionen zur Revitalisierung in das Gebiet gepumpt. An allen Ecken wird die Infrastruktur modernisiert, werden Substandardwohnungen »sanft saniert«. Yilmaz, eine quirlige Kommunalpolitikern, die schon mal für ein Plakat im Dirndl posiert, will mit Argusaugen darüber wachen, dass die Brunnenmarktszene nicht allmählich außer Kontrolle gerät.

Sieben Fernsehteams auf der Suche nach türkischem Lokalkolorit

Die 51-jährige Basisarbeiterin, geboren in Izmir und seit vier Jahrzehnten hier ansässig, verkörpert die Integrationskompetenz der Wiener Sozialdemokraten. Selbst dem Staatsoberhaupt ist sie ein Begriff. »Jö, die Nurten vom Brunnenmarkt«, frohlockte Heinz Fischer bei einem Rundgang. »Wie das klingt? Wie die Christl von der Post«, schauert es der roten Lokalmatadorin noch heute.

Noch ist das Brunnenviertel fest in der Hand der SPÖ. Die Partei organisiert hier gern Festivals und erhebt Monopolanspruch. Wenn politische Konkurrenz in das rote Revier einzudringen versucht, empfindet dies die rote Parteiseele als eine Art Hausfriedensbruch. Als etwa im Juni dieses Jahres der europäische Grünen-Star Daniel Cohn-Bendit am Yppenplatz eine Rede hielt, verbiesterte das die Stimmung bis in das Rathaus – gerade in dem Szeneviertel, das sich im Entstehen befindet, müssen die Genossen eine weitere grüne Insel befürchten. Als sogar die schwarze Innenministerin mit ihrem Integrationsbus einen Stopp am Yppenplatz einlegte, war ein lautstarkes Großaufgebot der Jusos zur Stelle. Maria Fekter kam nicht wieder.

Häufig zieht es die Prominenz aus dem Rathaus auf Erkundungstour in ihren Multikulti-Hinterhof. Hierher, in seine »Nahversorgungsoase«, wie er sagt, kommt auch der Bürgermeister, um in der türkischen Großraumgaststätte Kent seine Integrationspläne vorzustellen. In dem lebendigen Speiselokal, in dem permanent der türkische TV-Sender TRT auf einem Großbildschirm flimmert, treffen die Bevölkerungsgruppen aufeinander wie sonst nirgendwo in der Stadt. Als bei der Fußball-EM 2008 die türkische Nationalmannschaft gegen die portugiesische Elf antrat, waren gleich sieben Kamerateams anwesend, um Lokalkolorit einzufangen. Doch außer ein paar Männern am Stammtisch in der ersten Reihe hatte niemand Migrationshintergrund. Den Großteil der Gäste bildeten »Schwabos«, wie hier die Ottakringer genannt werden, die alle auch nur zum Türkenschauen gekommen waren.

»Früher«, sinniert Herr Kurt. »Früher«, bestätigt Herr Hans. Die beiden Pensionisten sitzen jeden Tag beim Neumeier in der Gaullachergasse, 15 Meter vom Brunnenmarkt entfernt. Von zehn Uhr vormittags bis acht Uhr abends. Sie erzählen von einem Brunnenmarkt, den es schon lange nicht mehr gebe. Vom Pferdefleischhauer, von den Bauern, die sich mit ihrer Ware noch vor dem Morgengrauen in die Stadt begeben hätten, von den kleinen Ganoven im Café Müller, das längst dichtgemacht habe.

Das Neumeier sei einmal eine Institution gewesen. »Früher war das Wirtshaus immer voll«, erinnert sich die korpulente Wirtin, die neben einem eisernen Kanonenofen lehnt. »Aber heute? Die Türken trinken ja nichts.« Das Neumeier ist ein Beobachtungsposten ohne Aussicht. Ohne Musik. Ohne TV. Ohne Kontakt zu den Nachbarn. Ohne Speisekarte, weil es hier keine Speisen gibt. Es gibt Altbewährtes: Rot, Weiß, Bier, Kaffee, Tschapperlwasser, Salzstangerln und »Rauchen gestattet«. Meist herrscht Schweigen. Bloß wenn sich ein neuer Gast in das Lokal verirrt, wird das Notwendigste geredet. »Wir haben nur Stammgäste. Und die sterben weg«, sinniert die Wirtin: »Es gibt eben keine Wirtshauskultur mehr. Die Jungen gehen jetzt lieber in die G’spritztenlokale am Yppenplatz.« Dann versinkt sie wieder in Schweigen. Weiter unten, zwei Häuserblocks entfernt, fängt das abendliche Gezwitscher eben erst an.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT, Österreich Ausgabe 44 vom 22. Oktober 2009.